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Interview

"Kirche muss gut auf die Menschen hören"

Vor gut einem Jahr kam Philip Messner als neuer Pfarrer in die Evangelische Kirchengemeinde Bierstadt - mitten in der Corona-Pandemie. Wie er die Gemeinde wahrnimmt, was er sich für die Institution Kirche wünscht und dass er Bibelarbeiten auch heute noch zeitgemäß findet, erzählt er im Interview:

Herr Messner, ein Gemeindeleben, wie es vor der Pandemie war, haben Sie bislang nicht erlebt. Was haben Sie bei Ihrem Amtsantritt in Bierstadt erwartet?
Pfarrer Philip Messner: Ich habe eine lebendige und engagierte Gemeinde erwartet. Ich bin nicht enttäuscht worden. Es gibt Menschen, die trotz Corona fleißig mittun, sich engagieren und die da sind, wenn man sie fragt.


Wurden Sie positiv überrascht?

Ja, immer wieder. Ich habe zum Beispiel Zuschriften von Gemeindemitgliedern erhalten, die sich für meine Geburtstagsbriefe bedanken, weil meine Worte sie getröstet haben. Sehr positiv überrascht bin ich von der großen Spendenbereitschaft unserer Gemeindemitglieder. Jüngstes Beispiel war die Taifun-Nothilfe für unsere Partnerkindergärten in Hingotanan auf den Philippinen, für die unsere Gemeinde eine Spendenaktion ins Leben gerufen hat. 


In guter lutherischer Tradition ist die Predigt Mittelpunkt des Gottesdienstes. Was ist für Sie eine gute Predigt?
Ich finde es wichtig, dass Predigten lebensnah sind, dass sie einen Gegenwartsbezug haben und dass auch die menschlichen Lebenssituationen mit einbezogen werden. Außerdem ist die biblische Botschaft wichtig. Diese mit der Lebenssituation von Menschen zusammenbringen – das ist ein guter Weg für spannende Predigten.


Sie haben in den vergangenen Monaten sieben Bibelarbeiten zu Geschichten aus dem Lukasevangelium angeboten. Ist Bibelarbeit heute noch zeitgemäß?
Die Bibel hat eine trostreiche und hoffnungsvolle Botschaft. Sie trägt zu einem gelingenden und vertrauensvollen Leben bei. Und Bibelarbeiten, so wie ich sie begreife, helfen dabei, die biblische Botschaft besser zu verstehen und fruchtbar zu machen für das eigene Leben. Und deshalb sage ich: Ja, Bibelarbeiten sind auch heute noch zeitgemäß.


Wie war die Reaktion der Teilnehmenden bei diesen Bibelarbeiten?

Positiv. Ich wurde gefragt, ob das Angebot weitergeht. Deswegen werden wir die Bibelarbeiten in diesem Jahr fortführen. Im Schnitt haben pro Abend zwischen drei und acht Personen teilgenommen. Es war eine schöne Gemeinschaft. Wir konnten einen vertrauensvollen Raum schaffen, in dem es möglich war, sich gegenseitig zu öffnen und auch persönliches auszutauschen. Für mich war es ein großes Geschenk, die Fragen und Gedanken der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu hören und mich davon herausfordern zu lassen.


Wird die Kirche als Institution heute noch gebraucht?
Schwierige Frage. Kirche wird heute auf jeden Fall gebraucht. Sie hat eine hoffnungsvolle und trostreiche Botschaft, sie trägt ganz wesentlich in Gesellschaft und Privatleben zu einem gelingenden Miteinander bei. Kirche stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und sie trägt dazu bei, dass Menschen ein verlässliches Wertefundament ausbilden können. Das ist heute wichtiger denn je.


Was sollte sich verändern?

Wichtig ist, dass die Kirche nicht um sich selbst kreist, sie ist kein Selbstzweck, sie darf sich nicht in Verwaltungsfragen verlieren. Wir stecken in einem Reformprozess, den sie zu meistern hat. Sie muss eine den Menschen zugewandte Kirche bleiben, sie muss nah bei den Menschen am Ort sein, bei allen Veränderungsschritten, die nötig sind.
Es ist wichtig, dass die Kirche eine erkennbar geistliche Dimensionen hat. Kirche ist keine politische Partei. Sie kann sich zu bestimmten Themen äußern, wo sie sich mit der biblischen Botschaft trifft. Aber im Kern geht es ja darum, für die Menschen da zu sein, sie zu trösten, sie aufzurichten und ihnen einfach dabei zu helfen, dass ihr Leben gelingen kann.


Versetzen Sie sich in die Rolle von Martin Luther: Was würde er in der heutigen Zeit tun?

Martin Luther war es wichtig, den christlichen Glauben in den Familien zu verankern. Ihm war es wichtig, dass das Volk gebildet und mündig sei. Das wäre für mich auch heute eine ganz wichtige Aufgabe. Die Familie als Ort gelebten Glaubens zu stärken und zu fördern ist eine lohnende Aufgabe, durch kindgemäße Gottesdienste zum Beispiel, durch Bildungsarbeit; da schweben mir etwa Kirchenführungen vor –  auch für Kinder und Familien, damit sie ihre Kirche neu entdecken können.


Brauchen wir heute nach über 500 Jahren eine neue Reformation?

Dass wir jetzt einen neuen Luther bräuchten, glaube ich nicht. Reformation im Sinne des Protestantismus ist ein fortwährender Prozess. Es braucht immer wieder die Ausrichtung auf die biblische Lehre und das biblische Wort, von dort empfängt die Kirche ihr Leben. Die Kirche hat die Aufgabe, ihre Botschaft in ihre jeweilige Zeit hineinzusagen. Dabei muss sie gut auf die Menschen hören, die gerade leben. Sie muss darauf achten, was diese Menschen umtreibt und bewegt.


Ein Blick in die Geschichte: Die jüdischen Gemeinde Bierstadt war einst eine kleine, aber blühende Gemeinde. Heute gibt es hier keine jüdische Gemeinde mehr und nur wenig Erinnerungskultur. Wie kann ein angemessenes Gedenken ermöglicht werden?
In meiner vorigen Gemeinde habe ich initiiert, dass es eine Gedenktafel gibt, die an die Menschen jüdischen Glaubens erinnert. Auch habe ich regelmäßig historische Ortsrundgänge organisiert. Das ist ein bewährter Weg: Gemeinsam an die Orte in Bierstadt gehen, wo einst jüdisches Leben stattgefunden hat. Gedenkveranstaltungen und Gedenkandachten gehören meiner Ansicht nach ebenso zu einer Erinnerungskultur dazu. Wichtig finde ich es, Begegnungen zu schaffen zwischen Juden und Christen. Eine Gemeindeexkursion zur Synagoge in Wiesbaden wäre etwa eine Idee. Bildung und Begegnung – das ist die Aufgabe.


Die Rolle der Bierstadter evangelische Gemeinde während der Nazi-Zeit ist bisher nie so richtig aufgearbeitet worden. Halten Sie es für wichtig, dass dies geschieht?
Das halte ich für sehr wichtig. Die Menschen müssen wissen, was hier geschehen ist. Es ist gerade eine Dokumentation in Arbeit, die uns die Zeit und die Hauptakteure in der damaligen evangelischen Gemeinde näherbringen soll. Allen voran geht es um den damaligen Pfarrvikar Hans Ruhl, der 1933 von Igstadt nach Bierstadt als Pfarrverwalter versetzt wurde. Die Gemeinde hat erstmalig die hier noch vorhandenen Dokumente aus der Zeit von 1933 bis 1946 dem Autor zur Einsicht gegeben, der diese inzwischen gesichtet, geordnet und katalogisiert. Es ist geplant, die Ergebnisse seiner Arbeit der Öffentlichkeit vorzustellen, das kann im Rahmen einer Lesung oder eines Vortragsabends, gerne auch in Verbindung mit einem entsprechenden Ortsrundgang geschehen.

Das Interview führte Gerhard Valentin

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